Ungarn und die Erinnerung an 1956

von Christine Müllner

Erinnerungsstrukturen sind unterschiedliche historische und kulturelle Ausprägungsstränge des kollektiven Gedächtnisses.[1] In einem Land wie Ungarn, in welches nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie und der einhergehenden Souveränität große Gebietsverluste erfahren hat, den folgenden territorialen Wiedergewinnen mit Hilfe nationalsozialistischer Unterstützung und der daraufhin folgenden kommunistischen Machtergreifung, ist eine offene Erinnerungskultur keine Gegebenheit[2].

In den Jahren nach dem blutigen Volksaufstand von 1956 wurden Literatur, Wissenschaft und Kultur der kommunistischen Parteilinie unterstellt, wobei das Jahr 1956 weitestgehend tabuisiert wurde und wenn darüber gesprochen wurde, ausschließlich in ritualisierter Form. Nichtsdestotrotz erlebten die Ereignisse von 1956 vor allem in den 1980er Jahren einen thematischen Neuaufschwung und trugen erheblich zum demokratischen Systemwechsel von 1989 in Ungarn bei. Grund dafür war unter anderem der eher liberale Regierungsstil János Kádárs, welcher wirtschaftlich und politisch früh entscheidende Schritte Richtung Demokratie unternahm.[3] Der Kádárismus war geprägt von Widersprüchlichkeiten und Komplexitäten, sowie gegensätzlichen Erinnerungen und Empfindungen. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren ist es der Bevölkerung Ungarns materiell so gut gegangen wie nie zuvor, wobei der der Wunsch nach Demokratie trotzdem immer lauter wurde. Deshalb hat sich der „Gulaschkommunismus“ als keine gute Grundlage für polarisierende Diskussionen gegen den Kommunismus herausgestellt. Der Aufstand von 1956 hingegen schon, da dieser eine klare Täter-Oper-Unterscheidung zugelassen hat.[4]

Als endgültiger Anstoß für den Systemwechsel 1989 fungierte schlussendlich die Umbettung und folgende Rehabilitierung Imre Nagys, der unmittelbare Vorgänger János Kádárs und Opfer des Volksaufstandes von 1956. Medial gewann das Ereignis so viel aufsehen, dass sich daraus eine logische Kausalkette bildete. Das Sprechen und Schreiben über 1956 konnte nun nicht mehr unterdrückt werden, mit dem Ergebnis einer Neuinterpretation von 1956 als Revolution und Freiheitskampf.[5] In den Jahren nach 1956 wurde aktiv versucht, das Gedenken und Erinnern an dieses Jahr zu verhindern, was schlussendlich die Bedeutung des Volksaufstandes umso mehr erhöhte. Die Umbettung Nagys markierte also einen symbolischen Neubeginn für Ungarn als demokratisches Land und das am 33. Jahrestag des Ausbruches der Revolution am 23.10.[6]


[1] Michael C.Frank/Gabriele Rippl, Arbeit Am Gedächtnis, Boston 2007, 63.

[2] Máté Szabó, Kompromiss als Erbe des Kádárismus, in: Jerzy Macków (Hg.), Autoritarismus in Mittel und Osteuropa, Wiesbaden 2009, 199-213, 200.

[3] Ebd. 201.

[4] Ápárd von Klimó, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eignen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem, Göttingen 2004, 283-306, 304.

[5] Szabó, Kompromiss als Erbe, 209.

[6] Helmut Altrichter/Elisabeth Müller-Luckner, GegenErinnerung, Oldenburg 2006 ,176ff.