Das „erste Opfer“ und die Trägerin des „antifaschistischen Vermächtnisses“

Ein Vergleich zwischen Österreich und der DDR hinsichtlich der Erinnerungs- und Gedenkkultur bezüglich des Nationalsozialismus

Blogbeitrag

 

von Bernhard Gaishofer

Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus 1945 ergab sich für die Nachfolgestaaten des „Dritten Reichs“ die Frage nach der Etablierung neuer bzw. erneuerter nationaler Identitäten.
Dies galt Insbesondere für Österreich und die DDR, welche im Gegensatz zur BRD, nicht als Rechtsnachfolger Nazi-Deutschlands gesehen wurden. Bezogen auf eine Analyse von M. Rainer Lepsius ergibt sich folgendes Bild: In Österreich wurde der Nationalsozialismus externalisiert, da er – so die Begründung – Teil der deutschen Geschichte sei und (der eigenständigen Nation) Österreich von außen aufgezwungen wurde. Anders in der DDR: Hier wurde der Nationalsozialismus unter dem Begriff des Faschismus universalisiert. Dies bedeutet, dass laut der damaligen marxistisch-leninistischen Erklärung die Grundlage des Faschismus der Kapitalismus sei und da die DDR sich als sozialistische Nation bezeichnete, war diesem somit auch der Nährboden entzogen.

Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als Baustein für nationale Identität

In Österreich etablierte sich mit Bezugnahme auf die Moskauer Deklaration von 1943 die sogenannte Opferthese, welche aussagte, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war. Überhaupt wurde dieser als rein deutsches Problem gesehen, weshalb vor allem versucht wurde sich von Deutschland abzugrenzen und einen österreichischen Patriotismus zu etablieren. Eng damit im Zusammenhang stand die Erzählung der Lagerstraße, nach welcher alle politischen Lager in Österreich unter den Nazis litten und daher nun gemeinsam, nach den Auseinandersetzungen der 1. Republik zusammenarbeiteten, wobei dies explizit auf die SPÖ und ÖVP (Proporz) zu beziehen ist.
Für die DDR galt, wie eingangs erwähnt, der Gründungsmythos als antifaschistischer Staat. Kennzeichnend war, unter anderem durch die enge Faschismusdefinition bedingt, eine Hierarchisierung der Opfer des Nationalsozialismus (Kommunist*innen waren im Fokus, alle anderen insbesondere Jüd*innen wurden marginalisiert). Außerdem ist eine ausgesprochen ritualisierte und abstrakte, mehr auf Symbole beziehende Gedenkkultur und eine, vor allem auf die deutsch-deutschen Beziehungen bezogene, politische Instrumentalisierung des Gedenkens zu nennen.

Aufbrechen etablierter Narrativer – die 1970er und 1980er Jahre

Im Laufe der 2. Republik zeigten sich in Österreich zusehens Widersprüche hinsichtlich der vertretenen Opferthese. Schon in den 1960er Jahre zeigten sich mit dem Tod des ehemaligen Widerstandkämpfers Ernst Kirchweger, im Zuge von Protesten gegen den neonazistischen Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz, erste Risse. Ab den 1970er Jahren folgten zahlreiche politische Ereignisse, welche die Glaubwürdigkeit dieser These untergruben: Angefangen bei der Auseinandersetzung zwischen Bruni Kreisky und Simon Wiesenthal, über die „Frischenschlager – Reder Affäre“ 1985, bei welcher der damalige FPÖ Verteidigungsminister einen von Italien freigelassenen Kriegsverbrecher per Handschlag begrüßte, bis hin zu den Vorwürfen gegen den Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim, elche dieser zunächst bestritt und schließlich mit „Pflichterfüllung“ argumentierte. Erst 1991 gestand Kanzler Franz Vranitzky eine Mitverantwortung Österreichs ein. Fortan kann von einer modifizierten Opferthese gesprochen werden: Der Staat Österreich war Opfer, aber einzelne Bürger*innen trugen durchaus Verantwortung.
Im Gegensatz dazu veränderte sich die Gedenk- und Erinnerungspolitik in der DDR, vor allem aufgrund der fehlenden öffentlichen Auseinandersetzung und kritischen Forschung, kaum. Zwar wurden weitere Widerstands- und Opfergruppen anerkannt (insbesondere die Rolle der Jüd*innen rückte 1988 in den allgemeinen Fokus) und zusehens eine Diskussion über den etablierten Faschismusbegriff gefordert, grundlegend ändert sich jedoch wenig. Erst kurz vor Ende der DDR verlautbarte die erste Post-SED Regierung eine Erklärung und Entschuldigung hinsichtlich der Mitverantwortung am Nationalsozialismus.

 

Literaturliste (Auszug)

M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des "Großdeutschen Reiches". In: Max Haller, Hans-Joachim Hoffmann- Nowotny, Wolfgang Zapf (Hgs.), Kultur und Gesellschaft: Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt am Main 1989

Martin Tschiggerl, Identität und Alterität in den drei Nachfolgegesellschaften des NS-Staats. Am Beispiel der Sportberichterstattung, Wiesbaden 2020

Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten (Zeithistorische Studien, Band 4), Berlin 1995

Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung?. Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, Band 11), Göttingen 2017

Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2015, Wien 2015

Werner Bergmann (Hg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1995