Frauen*- und Geschlechtergeschichte ist ein integraler Bestandteil und Schwerpunkt der zeithistorischen Forschung und Lehre. Das 20. Jahrhundert, dem ein hohes Ausmaß an physischer Gewalt, vielfältige politische Zäsuren und die antagonistische Gegenüberstellung konkurrierender Gesellschaftssysteme ihren Stempel aufgedrückt haben, wird durch eine geschlechtergeschichtliche Betrachtung in eine neue Perspektive gerückt. Monolithisch erscheinende historische Untersuchungsgegenstände wie genozidale Gewalt, die Weltkriege, der Nationalsozialismus, „1968“, „die Konsum- und Mediengesellschaft“ oder der „real existierende Sozialismus“ können durch eine konsequente Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht sowohl für die Praktiken der historischen Akteur*innen als auch für die jeweils dominanten Diskursordnungen mit neuen Fragestellungen untersucht werden.
Geschlecht ist dabei neben anderen Kategorien wie Klasse, kulturelle und sprachliche Zugehörigkeiten, Konfession, Dis/Ability, Sexualität oder Generation als eine Kategorie zu verstehen, die gesellschaftliche Hierarchien bedingt und zugleich plausibilisiert. Aufgabe der Frauen*- und Geschlechtergeschichte ist es, die historische Gewordenheit und damit auch Wandelbarkeit solcher Kategorien und Hierarchien offenzulegen und in einer interdisziplinär vernetzten Perspektive nachzuvollziehen.
In der zeithistorischen Auseinandersetzung mit globaler ökonomischer Ungleichheit, mit Migrationen, Rassismen und Sexismen, mit Antisemitismus und mit kolonialen und postkolonialen Abhängigkeitsverhältnissen werden gesellschaftliche Regulierungen, institutionelle Vereinbarungen, lebensweltliche Praktiken und heteronormative Diskurse, die zur Ausprägung asymmetrischer Strukturen beitragen, in ihrer Historizität und Veränderbarkeit beschrieben. Das reicht von Fragen nach der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und politischen Partizipation über die Analyse von sozialen Bewegungen, Institutionen, Medienkulturen, Lebensformen und Sexualitäten bis hin zur kritischen Auseinandersetzung mit (natur-) wissenschaftlich produzierten und legitimierten Vorstellungen von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und binärer Geschlechterordnung. Untersuchungen, die historische Verhandlungen der Geschlechterverhältnisse dokumentieren und analysieren, Studien zum Feminismus als transnationaler Denk- und Handlungsraum wie auch die biografische Auseinandersetzung mit bislang wenig sichtbaren Akteur*innen aus unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexten tragen maßgeblich zum Verständnis zentraler Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts bei.
In einem breiten methodischen und konzeptuellen Rahmen wird Zeitgeschichte damit jenseits konventioneller Zäsuren, systempolitischer Abgrenzungen und erinnerungspolitischer Konflikte neu lesbar und verhandelbar gemacht.
Stand 22-01-2024