Das nationalsozialistische Sondergericht Wien und seine Spruchpraxis bei Heimtückevergehen und Kriegswirtschaftsverbrechen

Rudolf Babinsky (*1899) wurde aufgrund von § 2 Abs. 2 des „Heimtückegesetzes“ vor dem SG Wien angeklagt und von diesem am 21. September 1943 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Sondergericht A1 – SHv-Strafakten: SHv 5562/47.

 

Dissertationsprojekt | Gabriele Hackl

 

Die Sondergerichte des nationalsozialistischen Regimes waren bedeutende Werkzeuge zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Politik und zur Verwirklichung der angestrebten „Volksgemeinschaft“. Ihre Rechtsprechungspraxis definierte akzeptables und unerwünschtes Verhalten und stigmatisierte jene, die aus der Gemeinschaft des „deutschen Volkes“ exkludiert werden sollten. In der Dissertation „Frauen und Männer vor dem Sondergericht Wien“ wird das „Volksgemeinschafts“-Konzept als neue Normalitätsfolie verstanden, die richtungsweisend war für die Bewertung krimineller oder „asozialer“ Handlungen bzw. Personen. Wie sich das ideologische Konzept in der Rechtsprechung eines angeschlossenen Gebietes niederschlug, ob und wie schnell es implementiert wurde, soll anhand des Sondergericht (SG) Wien aufgezeigt werden. Es war das größte der „Ostmark“ bzw. der „Donau- und Alpenreichsgaue“ und wurde 1938 ursprünglich als Besonderer Senat am Oberlandesgericht installiert. Nach 1939 am Landgericht angesiedelt, wurde seine Zuständigkeit bis 1942 ausgedehnt auf die Landgerichtsbezirke Krems, St. Pölten und Znaim.

Das Dissertationsprojekt fragt für die Jahre 1938–1945 nach der Anwendung des normierten Rechts, der Bedeutung informeller Entscheidungsparameter und nach der Setzung neuer Normalitätsgrenzen durch das SG Wien. Die Erfüllung von Rollen- und Wertvorstellungen der involvierten Juristen spielten besonders beim im Nationalsozialismus praktizierten Willensstrafrecht eine maßgebliche Rolle. Den Justizbeamten wurden durch gezielte Änderungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung neue Interpretations- und Handlungsräume eröffnet. Mit der Festschreibung der Generalklausel der „Verletzung des gesunden Volksempfindens“ als Urteilsgrundlage wurde das ideale Mittel zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Weltanschauung geschaffen. Gleichzeitig konnten nun vormals informelle Rechtsprechungskriterien – seien dies Vorstellungen über Geschlechterrollen oder auf kriminologischen oder rassistischen Diskursen rekurrierende Verhaltenscodes – das Schicksal Verfolgter bestimmen.

Dementsprechend befasst sich das Dissertationsprojekt mit der Wirkungsmacht der fünf sozialen Dimensionen „Rasse“/Ethnie, Geschlecht, Status/Klasse, Religion und Körper/Gesundheit auf die Kriminalisierung von Personen und Handlungen. Konkret untersucht werden als politische Delikte verstandene Heimtückevergehen und unpolitische Kriegswirtschaftsverbrechen, da diese die am häufigsten vor dem SG Wien verhandelten Deliktfelder darstellen. Die Dissertation verbindet dabei rechts- und sozialgeschichtliche Ansätze mit geschlechterwissenschaftlicher Theorie, soziologischen Methoden und Werkzeugen der Digital Humanities. Ziel ist es, die Denkkategorien und Handlungsmuster der Juristen am SG Wien sowie die tatsächliche Bedeutung des „Volksgemeinschafts“-Konzepts in der politischen Justiz im angegliederten Österreich aufzuzeigen.