Wie kein anderer war Anton Staudinger mit dem Institut verbunden, er wurde im Jahr der Gründung 1966 zum ersten Assistenten von Ludwig Jedlicka berufen und prägte das Institut in seinen ersten Jahrzehnten in Lehre und Forschung maßgeblich mit, darüber hinaus engagierte er sich auch hochschulpolitisch. Ab 1976 Oberassistent, bewarb er sich nach dem unerwarteten Tod von Jedlicka um dessen Nachfolge als Ordinarius und war im Besetzungsvorschlag der Kommission hinter Erika Weinzierl zweitgereiht. 1980 habilitiert, wurde er 1983 zum a.o. Universitätsprofessor ernannt, von 1990 bis 1994 wirkte er als Institutsvorstand, in den letzten Jahren seiner aktiven Dienstzeit beteiligte er sich auch maßgeblich am Umzug des Instituts in den Campus Altes AKH. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst blieb Anton dem Institut eng verbunden und widmete sich u.a. der Erschließung der großen archivalischen Sammlung im Haus, die nicht zuletzt auch durch seine Aktivitäten seit der Gründung des Instituts entstanden ist.
Anton Staudinger war ein Experte für die Geschichte der Ersten Republik und des Austrofaschismus. Stand am Anfang insbesondere die Gründungsphase der Republik im Mittelpunkt seiner Arbeit (so beschäftigte er sich etwa mit der Rätebewegung und der Ernährungspolitik unmittelbar nach dem Krieg), so lag der Fokus seiner Forschung bald auf der Christlichsozialen Partei, deren Rolle bei zentralen Ereignissen der Ersten Republik er in einer Reihe von Studien herausarbeitete. Dazu zählte auch die Auseinandersetzung mit der Mitwirkung der Christlichsozialen bei der Errichtung der austrofaschistischen Diktatur. Sein Blick auf das konservativ-katholische Lager war ein außerordentlich kritischer und so verwies er nicht nur immer wieder auf die Geschichte des katholischen Antisemitismus, sondern beschäftige sich auch eingehend mit deutsch-völkischem Denken und Antiparlamentarismus im konservativen Lager der österreichischen Politik zwischen den Weltkriegen. Davon ausgehend hat er nicht nur die Österreich-Ideologie des Austrofaschismus kritisch untersucht, sondern auch den Beitrag katholischer Kreise zum ‚Anschluss’ an NS-Deutschland. Anton Staudinger war ein feinsinniger und immer verbindlich formulierender Wissenschafter – das sollte gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass er scharf mit dem politischen Milieu, das er untersuchte, ins Gericht ging und auch unbequeme historische Themen konsequent ansprach.
Geboren in den ersten Monaten des Zweiten Weltkrieges im oberösterreichischen Bad Hall, stammte Anton Staudinger aus sehr bescheidenen Verhältnissen, sein Weg zum Historiker und Universitätsprofessor war keineswegs vorgezeichnet. Nach der Volksschulzeit durchlief er eine für seine Herkunft damals ungewöhnliche Bildungskarriere: Seit 1950 besuchte Anton Staudinger das Gymnasium der Benediktiner in Kremsmünster, eine Karriere als Priester wäre naheliegend gewesen. Nach bestandener Matura 1958 mit Auszeichnung begann er im Wintersemester 1958/59 an der Universität Wien Germanistik und Geschichte zu studieren und schloss 1964 mit der Lehramtsprüfung für diese beiden Fächer ab.
Ludwig Jedlicka, bei dem Anton Staudinger ein Seminar besuchte und dem er offensichtlich aufgefallen war, bot ihm die Mitarbeit an dem großen von der Regierung beauftragten Forschungsprojekt über den österreichischen Widerstand an, das in Kooperation mit Herbert Steiner (DÖW) und auch mit Karl R. Stadler „den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung im Sinne der Moskauer Deklaration“ historisch darstellen sollte. So wurde Staudinger noch 1964 Angestellter am damaligen Österreichischen Institut für Zeitgeschichte, dem Vorläufer des Universitätsinstituts. Das Projekt bot den Beteiligten die Möglichkeit, erstmals Archivalien zu sichten und zu sammeln, die ansonst nicht zugänglich waren, und Forschungsperspektiven auf das Forschungsfeld Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu entwickeln. Für Anton Staudinger war es zugleich der Einstieg in die universitäre Karriere.
1969 promovierte Staudinger mit einer Dissertation zu den „Bemühungen Carl Vaugoins um Suprematie der Christlichsozialen Partei in Österreich (1930 - 1933)“, für die er 1970 mit dem Kunschak-Preis ausgezeichnet wurde. Er bekleidete in den folgenden Jahrzehnten Funktionen in mehreren wissenschaftlichen Institutionen, u.a. in der am Institut angesiedelten Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte als Vorstandsmitglied, als Mitwirkender der Wissenschaftlichen Kommission des Theodor Körner Stiftungsfonds und des Leopold Kunschak Preises zur Erforschung der Geschichte der österreichischen Republik, als Kuratoriumsmitglied des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) und als Vorstandsmitglied des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung.
„Anton Staudinger, Historiker, Bratschist, Koch“ – so stellte Anton sich in seiner 1991 produzierten und mehrfach wiederausgestrahlten Radio-Show „Das gefundene Fressen“, in der es unter anderem um Eßbares aus den Wäldern in und um Wien ging, selbst vor. Anton war ein unkonventioneller und phantasievoller Lehrender und Vermittler. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich seine Interessen nie auf die Geschichtswissenschaft beschränkten. Als aktiver Musiker und begeisterter Konzertbesucher seit seiner Jugend, Liebhaber des Theaters und avancierter Hobbykoch bot er immer wieder Seminare zu kultur- und alltagsgeschichtlichen Themen an. Aus der Auseinandersetzung etwa mit Hungerunruhen nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich auch ein Seminar entwickeln, in dem Kochrezepte der Jahre extremen Mangels nicht nur erkundet, sondern auch ausprobiert wurden. Seine Herkunft vom Land hat Anton nie verborgen – wir profitierten vielmehr viele Jahre davon, wenn er etwa im Frühjahr mit einem großen Gemüsekorb den Institutsgang entlangging und den ausgezeichneten Spargel seiner Nachbarin, einer Gemüsebäurin im Norden Wiens, unter die Leute brachte.
Anton war immer bereit, über rein politikgeschichtliche Perspektiven, wie sie häufig mit der Zeitgeschichtsforschung verbunden werden, hinauszugehen. Nicht zuletzt dieses Interesse an kulturhistorischen, sozialgeschichtlichen und theoretischen Fragen hat ihn auch in Verbindung mit der Gründungsgruppe der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften gebracht, an der er von Beginn an als Mitherausgeber mitwirkte und der er auch nach seiner Pensionierung eng verbunden blieb. „Ein Votivsäulchen für das goldene Wiener Gemüt“ lautete der H. C. Artmann zitierende Titel eines rezenteren Aufsatzes von Anton Staudinger – er beschäftigte sich darin mit der avantgardistischen Theaterszene im Wien der 1960er Jahre und deren Verbindungen zum Theater des Absurden in Frankreich. Die tiefgreifende theatergeschichtliche Expertise, die darin zum Ausdruck kam, hatte auch biographische Wurzeln: in seiner Studienzeit war Anton Mitglied des Studententheaters ‚die arche‘, das nicht zuletzt mit der Aufführung von ‚jegliche Regeln der Dramaturgie‘ mißachtenden Einaktern des Theateravantgardisten Artmann Furore machte. Etwas von dem Schalk, der Traurigkeit und dem kritischen Geist dieser Erfahrung blieb Anton bis zuletzt erhalten.
Johanna Gehmacher/Bertrand Perz Wien, Jänner 2025
Die Kremation und anschließende Urnenbeisetzung findet am 11. Februar 2025 um 14:00 in der Feuerhalle Simmering, Raum 4, Simmeringer Hauptstraße 337, 1110 Wien statt.