Die Frauenfreundschaft (hat) für die Unverheiratete oft lebenswichtige Bedeutung – zumal dann, wenn Freundinnen nicht durch ihre persönliche Zuneigung, sondern überdies durch gemeinsame Berufs- oder sonstige Interessen zueinander geführt worden sind.
(Marianne Weber 1935, Die Frauen und die Liebe)
Im Jahr 1935 betonte die Frauenrechtlerin Marianne Weber (1870-1954) die existenzielle Bedeutung von Frauenbeziehungen. Mit „Frauenfreundschaft“ assoziierte sie (indirekt) die Idee einer politischen Freund:innenschaft, die von „Zuneigung“ und geteilten „Interessen“ geprägt ist. In der neuen Ariadne 78 (2022) greifen wir Marianne Webers Definition auf und fragen: An welchen Orten, in welchen Zusammenhängen und in welchen Formen wurden Freund:innenschaften politisch? Und wie waren sie mit Frauenbewegungsgeschichte/n (Heinsohn/Schaser 2021; Delap 2020) im 20. Jahrhundert verflochten?
Freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen waren schon früh Gegenstand historischer Forschung. ‚Freundinnenschaft‘ wurde dabei in unterschiedlicher Weise perspektiviert: als Teil einer widerständigen Gegenöffentlichkeit (Heintz/Honegger 1984), als besondere Beziehungsform innerhalb von Frauenbewegungen (Gerhard/Klausmann/Wischermann 1993; Hacker 1987; Göttert 2000; Schaser 2000) oder als Schauplatz von Romantik, Zugehörigkeit und (heimlichem) Begehren (Smith-Rosenberg 1975; Faderman 1981; Plötz 1999). Seit einigen Jahren ist ein neues Interesse an der Geschichte von Frauenbeziehungen, insbesondere in der ‚Alten Frauenbewegung‘, festzustellen (Hacker 2015; Wolff 2017; Leyrer 2020; Heinrich 2020). Auch lesbische, queere und trans Freund:innenschaften, Verbindungen und Netzwerke wurden in letzter Zeit in den Blick genommen (Rottmann 2019).
Mit dieser Ariadne greifen wir den Faden der Forschung auf und rücken Freund:innenschaften als politisches Konzept ins Zentrum. Insbesondere für soziale Bewegungen wie ‚Frauenbewegungen um 1900‘ gelten Freund:innenschaften als basal für erfolgreiches Intervenieren: So stellte die Forschung heraus, dass die Verknüpfung von politischer Organisierung und freundschaftlicher Beziehung entscheidend zu Mobilisierung und Identitätsstiftung der Bewegung beigetragen hatte (Gerhard/Klausmann/Wischermann 1993; Schaser 2010²; Wolff 2017; Gehmacher/Heinrich/Oesch 2018).
Wir dehnen diese Forschungsfrage in zeitlicher und thematischer Hinsicht aus.
Zum einen fragen wir nach Freund:innenschaften in den Alten und Neuen Frauen/Lesben- oder queeren Bewegungen. Hier kann Freund:innenschaft als immer wieder hergestellte soziale und kommunikative Praxis im Kontext politischen Handelns ebenso im Zentrum stehen wie das Neudenken, Aushandeln bzw. Reflektieren von Freundschaftskonzepten innerhalb der und zwischen den Bewegungen.
Zum anderen regen wir dazu an, politische Freund:innenschaft über die frauenbewegte Rahmung hinaus zu denken. Wir interessieren uns für Praxis und Konzeption von politischen Freund:innenschaften als Basis weiterer sozialer Bewegungen sowie in verschiedenen politischen Kontexten und fragen, inwiefern persönliche Beziehungen und informelle Netzwerke zwischen Freund:innen bedeutsam für Organisierung, Verfasstheit, Entscheidungsfindung und das Funktionieren samt Erfolg und Scheitern von Bewegung(sziel)en waren. Wie gestaltete sich Freund:innenschaft bspw. in historischen Jugend-, Friedens- oder Arbeiter:innenbewegung/en?
Das Konzept der politischen Freund:innenschaft begreifen wir auf zwei Ebenen. Wir fragen sowohl nach der konkreten Praxis, i.e. nach freundschaftlich interpretiertem zeitgenössischem Agieren im bewegungspolitischen Kontext, als auch nach Freund:innenschaft als Idee und Konzept im histori(ographi)schen, kulturellen und politischen Bewegungswandel. Beides ermöglicht Einblicke in den Deutungshorizont samt Handlungsspielräumen von politischen Freundschaften zwischen Frauen im über 150 Jahre umfassenden Untersuchungszeitraum ‚Alter‘ bis ‚Neuer Frauenbewegungen‘.
Mögliche Fragen/Themen für Beiträge könnten sein:
- Vor dem Hintergrund welcher Vorstellungen von Weiblichkeit, welcher politischen Verhältnisse und situativen Kontexte wurde Freund:innenschaft in Frauenbewegungen entwickelt, gepflegt und performt? In welchen politischen Arenen und an welchen Orten?
- Welche Aktivist:in war mit wem wie warum (politisch) befreundet – und wo haben Akteur:innen über politische Freund:innenschaft wie nachgedacht?
- Welchen Stellenwert nimmt das Konzept der Freund:innenschaft beim Auf- und Ausbau der verschiedenen Flügel der Frauenbewegungen ein? Wozu dient es?
- Inwiefern lassen sich (bspw. habituell) verschiedene Formen von Freund:innenschaften diskursiv und/oder praktisch erkennen und analysieren, bspw. vergleichen? Wie vergleichbar ist bspw. Freund:innenschaft in/zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegungskontexten?
- Ist ein starker Bezug auf Freund:innen ein Spezifikum von Frauenbewegungen?
- Wie intim, wie demonstrativ, wie strategisch, wie un/sichtbar, wie öffentlich wurden/werden Freund:innenschaften in politischen Bewegungen gelebt, dargestellt oder auch erinnert?
- Welche Konsequenzen hatte die Verbindung des Konzepts (lebenslanger) Freund:innenschaft mit politischer Arbeit? Wie tragend war das Konzept bei der Suche nach Kompromissen und Bündnissen oder auch zur Entwicklung gemeinsamer Utopien von Politik, Gesellschaft und Gemeinschaft?
- Wie steht Freund:innenschaft zum Konzept der Solidarität? Welche Entwürfe, welche Formen von Solidarität und welche Emotionen werden mit Freund:innenschaft assoziiert?
- Welches Emanzipationspotenzial birgt das Konzept politischer Freund:innenschaften? Wie verhält sich ein politisches Konzept von Freund:innenschaft zum Konzept politischer Schwesternschaft? Wann wurde vom einen, wann vom anderen gesprochen? Wie wird/wurde es theoretisiert? Und wie verhält sich Freund:innenschaft in verwandtschaftlichen Beziehungsgeflechten?
- Inwiefern werden in Freund:innenschaft Differenzen anerkannt, überwunden oder verstärkt? Mit welchen politischen Folgen? Wie wurden unterschiedliche politische Einschätzungen und Konflikte verhandelt? Welche Krisen in der Freund:innenschaft zogen (welche) politischen Auswirkungen nach sich?
- In welcher Weise nehmen Frauen* als Freund:innen aufeinander Bezug – angesichts eines Freundschaftsideals, das ursprünglich nur männliche, bürgerliche Subjekte einschloss? Und wie hat sich das in historischen sozialen Bewegungen wie den Frauenbewegungen verändert?
Formales:
Die Zeitschrift „Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte“ wird vom AddF - Archiv der deutschen Frauenbewegung herausgegeben und erscheint ein Mal im Jahr. Im Zentrum der Hefte stehen Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts sowie damit verbundene Ideen, Theorien und Praxen.
Wir freuen uns auf entsprechende Einreichungen aus verschiedenen Qualifikationsstufen. Willkommen heißen wir auch Artikeleinreichungen, die am Rande des Themas zu liegen scheinen: Die genaue inhaltliche Gestaltung des Heftes richtet sich nach den eingehenden Exposés.
Die einzelnen Beiträge haben i.d.R. einen Umfang von ca. 38.000-52.000 Zeichen. Die Ariadne 78 erscheint voraussichtlich im Juni 2022.
Bei Interesse schicken Sie bitte bis 15. Mai 2021 ein kurzes Exposé (1-1.5 Seiten) an Mirjam Höfner: hoefner@addf-kassel.de oder/und Elisa Heinrich: elisa.heinrich@univie.ac.at
Konzept und Redaktion: Elisa Heinrich (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien); Mirjam Höfner (Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel)