Osteuropa als Kriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges war für die historische Forschung, aber auch in der Erinnerung lange Zeit ein unbekanntes Land. Dies gilt vor allem für die Nachkriegskämpfe, in denen sich die mitteleuropäische Staatenordnung völlig neu formierte. Während an den Pariser Verhandlungstischen noch über die neuen Grenzen debattiert wurde, focht man diese oftmals vor Ort mit Waffengewalt aus. Auf den Trümmern der untergegangenen Imperien Deutschlands, Österreichs und Russlands entstanden so ethnische Nationalstaaten, aus deren Geschichte die Gewalt als Gründungsakt später herausgetilgt oder patriotisch verklärt wurde – und bis heute verklärt wird.
Mit Polen als geographischem Zentrum untersucht das abgeschlossene Habilitationsprojekt die unterschiedlichen Ursachen und Formen dieser Gewalt sowie deren Nachwirkung in die ostmitteleuropäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit hinein. Es passt sich somit ein in einen relativ jungen Forschungszweig, der die unmittelbare Nachkriegszeit als eigenständige Periode europäisch vergleichend in den Blick nimmt und im 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) verordnet. Im Lichte des derzeit andauernden Krieges Russlands in der Ukraine wird auch darüber zu diskutieren sein, welche Bedeutung diese Forschungsergebnisse für die Gegenwart und die Zukunft haben.
Privatdozent Dr. Jochen Böhler ist Direktor des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien. Er promovierte 2006 an der Universität zu Köln mit einer Arbeit über die Wehrmacht in Polen 1939. Von 2000 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau sowie von 2010 bis 2019 am Imre Kertész Kolleg in Jena. Zuletzt war er Vertretungsprofessor für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und Gastprofessor an den Universitäten Paris 1, Paris-Sorbonne und Nantes.
INTERAKTIONEN – eine Vortragsreihe am Institut für Zeitgeschichte